Die Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie wurde von Dr. Stephen Porges formuliert. Er selbst brachte sie mit dem folgenden Satz auf den Punkt:

„Voraussetzung für unsere körperliche und mentale Gesundheit, für unser Glücklichsein, ist das Gefühl von Sicherheit.“

Zentrales Thema der Polyvagal-Theorie ist das Gefühl von Sicherheit. Die Theorie beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem (ANS) und unser gesamter Körper auf die subjektive Wahrnehmung von Sicherheit oder Gefahr bzw. Lebensgefahr reagiert. Bei der traditionellen Darstellung des Autonomen Nervensystems werden nur zwei Zustände, nämlich „Kampf / Flucht“ beziehungsweise „Entspannung / Erholung“, beschrieben. Sowohl bei Säugetieren als auch bei Menschen kann im Falle einer Gefahr für das Leben eine weitere Überlebensstrategie, nämlich die Erstarrung bis hin zur Ohnmacht, beobachtet werden. Das autonome Nervensystem reagiert in jedem Moment auf unser inneres Erleben und auf äußere Reize. Je nachdem, ob es Gefahr oder Sicherheit wahrnimmt, stellt es einen anderen Zustand in uns her.

So kann man diese drei Zustände beschreiben:

Sicherheit

Hier kann ich:

  • meinen Körper spüren
  • alle Gefühle fühlen
  • meine Bedürfnisse wahrnehmen
  • Entscheidungen treffen
  • in Kontakt zu anderen sein
  • mich erholen
  • erholsam schlafen




Hier kann ich sagen: „Ich bin bei mir“.

Gefahr

Hier empfinde ich:


  • unangenehme körperliche Anspannung
  • unangenehme körperliche Gereiztheit
  • meine Gefühle als sehr intensiv, übertrieben und dramatisch
  • viele Sorgen
  • Angst und dadurch stetige Abwehr
  • Fluchtimpulse
  • Aggressionen
  • andere Menschen als bedrohlich
  • unruhigen Schlaf als nicht erholsam

Hier kann ich sagen: „Ich bin außer mir“.

Lebensgefahr

Hier kann ich:


  • mich nicht mehr spüren
  • nicht mehr fühlen
  • keine Entscheidungen mehr treffen
  • kaum noch klar denken
  • mich kaum mehr konzentrieren
  • vielleicht auch nicht mehr sprechen
  • mich kaum noch bewegen
  • Anspannung nicht loswerden
  • nicht mehr schlafen
  • oder schlafen, aber ohne Erholung
  • nur noch verzerrt wahrnehmen

Hier kann ich sagen: „Ich stehe neben mir“.

Es ist wichtig, ein Verständnis für die eigene Wahrnehmung zu entwickeln. Wann habe ich Gefühle, die ich einfach spüren kann? Wann überwältigen mich meine Gefühle? Kann ich meine Körperreaktionen wahrnehmen? Kann ich es spüren, wenn ich zu sehr unter Strom stehe? Kann ich wahrnehmen, wenn ich durcheinander und wie ferngesteuert bin?

Sicherheit und Gefahr sind, wie schon erwähnt, keine objektiven Größen. Was für den einen Menschen gefährlich oder gar lebensgefährlich erscheint (z.B. die Spinne auf der Haut), lässt den andern völlig kalt. Auch sind die drei Zustände nicht scharf voneinander zu trennen, sie gehen fließend ineinander über, auch Mischformen sind möglich. Wir wollen uns jedoch auf diese drei grundlegenden Zustände konzentrieren.

Nur, wenn wir uns im Zustand der Entspannung bzw. Sicherheit befinden, kann unser Körper sich erholen. Die Fähigkeit sich zu erholen, bildet die Grundlage für körperliche und seelische Gesundheit.

Eine weitere wichtige Funktion des sicheren Zustandes betrifft die Fähigkeit, uns selbst und andere zu spüren und wahrzunehmen.

Menschen sind soziale Lebewesen, die auf intakte Beziehungen angewiesen sind. Diese sozialen Bindungen ermöglichen es, Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen und Leben und Überleben dadurch sicherer zu machen. Bevor unser Verstand Wind davon bekommt, ist ein Austausch mit anderen Menschen auf der Ebene des autonomen Nervensystems längst geklärt.


Wenn sich ein Mensch chronisch im Zustand der Gefahr oder gar Lebensgefahr befindet, dann ist die Folge:

1. Psychisches Leid (wie Depression oder traumatisiert sein)
2. Körperliche Beschwerden (wie Verdauungs- oder Herz / Kreislauf-Probleme)
3. Dysfunktionale Beziehungen, Soziale Isolierung

Die Polyvagal-Theorie bietet völlig neuartige Möglichkeiten, die abwärts gerichtete Spirale menschlichen Leids umzukehren. Eine faszinierende Möglichkeit ist das Safe and Sound Protocol (SSP), mit dem wir uns im nächsten Artikel beschäftigen.